Man begegnet Ihnen gerade in Krisenzeiten. Sie sind gefragte Talkshowgäste, orakeln schon frühmorgens aus dem Radio und führen Bestsellerlisten an: Zukunftsforscher haben derzeit Hochkonjunktur. Einblicke in einen Forschungsbereich, der uns eigentlich alle betrifft.
Herr Kondert, was macht eigentlich ein Zukunftsforscher?
Ein Zukunftsforscher nimmt sich Zeit für die Fragen, die in der Wirtschaft und in den Unternehmen zu selten Raum haben, weil es der Alltag nicht erlaubt. Konkret: Wie entwickeln sich Gesellschaft und Wirtschaft in einem Zeithorizont von 20 bis 50 Jahren.
Wenn ich das richtig verstehe, betreiben Sie und Ihr Team aber nicht nur Grundlagenforschung, sondern beraten ganz konkret Unternehmen?
Genau, man könnte sagen, wir sind ein Think&Do-Tank. Und wir begleiten von Mittelstand bis Großunternehmen alles. Dabei schmiegen wir uns sozusagen an die Verfasstheit der Organisation an. Wir bringen immer den gleichen Werkzeugkasten mit, aber die Konstellation und selbst die Reihenfolge der angewandten Methoden sind unterschiedlich. Denn man kann mit Menschen und Organisationen nur dann arbeiten, wenn man sie dort abholt, wo sie nun mal im Moment sind.
Sie haben ja einen großen, gesamtgesellschaftlichen Blick. Wie gelingt es zu vermitteln, dass dieser große Blick auch für das Unternehmen im Kleinen wichtig ist?
Nehmen wir das Beispiel Dekarbonisierung. Bei dieser geht es ja nicht um das Abschaffen von Plastikgabeln und darum, mehr mit den Öffis zu fahren. Klar, darum geht es auch. Aber der Hebel ist ja oftmals viel größer. Es gibt da das schöne Beispiel eines IT-Dienstleisters, der sagte sich: Intern sind wir so grün wie es nur geht. Er hat aber zehn große Versicherer international als Kunden. Nun stelle man sich vor, diese zehn Versicherer haben alle mindestens fünf Millionen Kunden. Macht 50 Millionen Touchpoints. Jetzt ist die Frage: „Wie kann ich meine Dienstleistungen so anpassen, dass diese Kunden einen besseren ökologischen Footprint bekommen?“ Da ist die Hebelwirkung. Wir helfen einfach Organisationen, diesen Blick neu zu definieren.
Das stelle ich mir leichter vor, wenn im Kleinen dieser Blick schon etabliert ist. Gibt es dieses Bewusstsein schon in den Unternehmen?
Ja, mittlerweile gibt es das. Und dafür war auch Corona gut, als eine Art Brandbeschleuniger. Und dafür ist auch die Digitalisierung gut, weil sie dafür sorgt, dass Dinge transparenter werden und im Diskurs bleiben. Und dafür, dass auch Menschen in Unternehmen, die noch nicht so grün sind, trotzdem den Schuss gehört haben.
Stichwort Corona. Hat die Pandemie Ihre Arbeit verändert?
Darauf gibt es zwei unterschiedliche Antworten. Die eine ist: Ja, Corona hat eine Krise ausgelöst, die wir alle zu Lebzeiten noch nicht erlebt haben. Warum? Weil sie global gewirkt hat. Weil sie zentrale, ich nenne sie jetzt mal Blutlinien unterbrochen hat. Weil sie an vielen Stellen sichtbar gemacht hat, wie fragil dieses System eigentlich ist.
Auf der anderen Seite antizipiert Zukunftsforschung Krisen immer mit. Weil wir das Ganze eben systemisch betrachten. Und in jeder systemischen Entwicklung hat man die Krise als immanenten Bestandteil. De facto hat Corona vor allem Dinge sichtbarer gemacht und Diskussionen befeuert, die wir ohnehin schon geführt haben.
Haben Sie Antworten, wie Corona unsere Gesellschaft und Wirtschaft verändern wird?
Wir sind nicht die Leute mit der Kristallkugel. Das glaubt man immer gerne, aber das stimmt nicht. Was wir versuchen, ist aufzudecken, wo Strömungen und potenzielle Implikationen sind, mit denen wir werden umgehen müssen. Und am Ende steht wieder ein Angebot in Richtung Entscheidungsfähigkeit für die Wirtschaft. Darum geht es, das ist letztlich unser Zweck. Wir wollen für Wirtschaft und für andere Systemkomponenten diesen zusätzlichen Blick anbieten.
[INTERVIEW: PAUL BERTEN]