Politisches

Sigmar Gabriel: „Ich war froh, als es vorbei war …“

Foto: Britta Pedersen (picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat sich aus der aktiven Politik zurückgezogen. Aber der ehemalige Bundesaußenminister und Vizekanzler begleitet die aktuellen Vorgänge immer noch interessiert – und nimmt hin und wieder selbst Stellung. Das Politikjournal Rundblick hat ihn in Goslar interviewt.

RUNDBLICK: Wünschten Sie manchmal, die Zeit wäre vor einigen Jahren stehen geblieben für die SPD?

GABRIEL: Nicht wenige in der SPD wünschen sich vermutlich die „guten alten Zeiten“ zurück, aber wohl weniger die Anfangs­jahre der SPD-Geschichte als die Jahre mit Willy Brandt und Helmut Schmidt. Vieles wird dabei rückblickend verklärt, denn auch diese Jahre waren schwer. Man muss nur an die Gründe für Brandts Rücktritt denken oder an den RAF-Terrorismus, den Helmut Schmidt als Kanzler durchzustehen hatte. Zurückblicken ist gelegent­lich ganz gut, um zu sehen, was trotz aller widrigen Umstände erreicht werden konnte.

RUNDBLICK: Aber damals war der Begriff „Volkspartei“ für die SPD auf jeden Fall berechtigt …

GABRIEL: Wenn wir die Lage nüchtern beurteilen, haben gegenwärtig doch alle sozialdemokratischen Parteien in Europa Probleme,­ an ihre einstige Stärke anzuknüpfen. Das Parteiensystem ist aufgefächert, die Gesellschaft ist viel individueller geworden. Selbst­bestimmung und Identität sind bestimmender geworden, die Ideale von Gemeinsinn und Solidarität, für die die SPD steht, treten eher in den Hintergrund. In den vergangenen 30 Jahren galt das Motto „Öffnung der Grenzen“ – bei den Daten, beim Kapital, bei den Waren­strömen und auch beim Thema Zuwanderung. Politik sollte sich möglichst raushalten, um der Wirtschaft freien Lauf zu lassen. Nun dreht sich die Stimmung, immer mehr Menschen wollen wissen: Wo sind eigentlich die Grenzen der Öffnung? Was fehlt, ist Sicher­heit für viele Menschen. Und das müssen Sozialdemokraten glaubhaft vertreten: wie schaffen wir Sicherheit, ohne dass wir uns gegen den Wandel stellen? Wie schaffen wir Sicherheit im Wandel? Das wäre eine klassische Aufgabe der SPD.

RUNDBLICK: Leistet das die SPD derzeit?

GABRIEL: Jedenfalls nicht hinreichend. Die steigenden Umfrage­zahlen für Armin Laschet und die Union hängen auch damit zusammen, dass in den Augen vieler Menschen die Christdemokraten immer schon für Stabilität gestanden haben. Da in diesem Wahlkampf bislang kaum jemand über Politik redet, spielen die traditionellen Vermutungen über Parteien und Personen eine große Rolle.

Teestunde mit einer Politik-Legende: Die Rundblick-Redakteure Klaus Wallbaum (l.) und Niklas Kleinwächter (r.) haben Sigmar Gabriel (m.) in seiner Heimatstadt Goslar zum Interview getroffen.

Foto: Tomas Lada

RUNDBLICK: Warum?

GABRIEL: Wenn es nicht um politische Fragen geht, spielen Perso­nen eine größere Rolle. Man kann beides nie ganz von­einander trennen – und natürlich hat die SPD ein Problem damit, dass sie einen populären Finanzminister nicht für geeignet hielt, die Partei zu führen, ihn aber jetzt für die Führung des Landes vorschlägt. Das ist, um es mal zurückhaltend zu formulieren, ein intellektuell ambitioniertes Vorhaben. Möglicherweise bin ich aber auch ungerecht in meinem Urteil, weil ich mir immer eine Politik wünsche, in der über die wichtigen Zukunftsfragen und die unter­schiedlichen Antworten der Parteien ordentlich gestritten wird. Denn nur dieser inhaltliche Konflikt schafft ja Klarheit und Orientierung für Wählerinnen und Wähler.

RUNDBLICK: Wie kann man jetzt das Beste daraus machen?

GABRIEL: Wahlkampf machen und versuchen, sozialdemokratische Inhalte mit der Person von Olaf Scholz zu verbinden und mit niemandem anderen. Weder mit den beiden Vorsitzenden noch mit einem vielstimmigen Chor von Ministerpräsidenten oder Ministern, wenn es um die jetzt wieder aufflammenden Sorgen um die Pandemie im Herbst geht. Da muss der den Ton vorgeben, der ins Kanzleramt will, und nicht noch einmal die organisierte Unverantwortlichkeit der Länder. Im Kern sollte es der SPD darum gehen, das Bedürfnis nach neuer Sicherheit nach der Pandemie aufzugreifen. Denn die Sorge um die Rückkehr der Pandemie, um den ausfallenden Unterricht für die eigenen Kinder und Enkel, um die wirtschaftliche Zukunft – all das ist ja spürbar und nachvollziehbar. Das betrifft übrigens auch die Klimapolitik: So richtig es ist, den Klimawandel zu bekämpfen, so sehr muss die Sozialdemokratie darauf achten, dass am Ende die Kosten dafür nicht die Familien oder die Rentner zu tragen haben. Eine soziale Klimawende zu formulieren, wäre den Schweiß der Edlen wert, denn das tun die Grünen nicht.

RUNDBLICK: Liegt das Problem der SPD nicht tiefer, in den Strukturen der Mitgliedschaft?

GABRIEL: Alle Volksparteien haben dieses Problem, die SPD auch. Uns fehlen die berufstätigen Jahrgänge. Wir haben viele Rentner, die viel in ihrem Leben und auch für die SPD geleistet haben. Und es gibt durchaus auch viele junge Leute, die oft noch in der Ausbildung sind. Die mittleren Jahrgänge, die klassischen, allzu oft gescholtenen „Funktionäre“, die mitten im Berufsleben stehen, sind uns verloren gegangen. Sie haben früher die politischen Aussagen der Partei auf ihre „Trittfestigkeit“ und Alltagstauglichkeit überprüft und geschaut, ob die Positionen im Programm auch zur Lebenswirklichkeit der Menschen in ihrem Umfeld passen. Heute laufen wir eher Gefahr, den Anschluss an den Alltag der Menschen und ihre Sorgen zu verlieren. Statt über Gemeinsinn und darüber, wie wir unsere Gesellschaft zusammenhalten, reden auch wir Sozial­demokraten viel zu häufig von „Identitätspolitik“ einzelner kleiner Gruppen.

[RUNDBLICK]

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